Konflikte klären unter Abwesenheit der zweiten Konfliktpartei
Die Stellvertretermediation ist eine Konfliktlösungsmethode, mit der es gelingt, Konflikte zu klären, wenn die zweite Konfliktpartei nicht zu einem Gespräch bereit ist oder aus unterschiedlichen Gründen (z. B. räumliche Entfernung oder Tod) nicht für ein Gespräch zur Verfügung steht.
In der Praxis gibt es viele Fälle, wo eine Seite ein Gespräch oder die Beteiligung an der Konfliktlösung verweigert. Ein unerwarteter Kontaktabbruch, mit den Folgen einer „Funkstille“, das heutzutage „Ghosting“ genannt wird, kommt immer häufiger vor. Menschen verschwinden ohne Erklärung aus gerade noch nahen Beziehungen.
Die andere Person bleibt dann mit ihren offenen Fragen und ihrer Verzweiflung zurück. Damit diese Menschen dennoch die Möglichkeit haben, die Situation für sich selbst zu klären und die Vergangenheit aufzuarbeiten, gibt es die Mediation mit Stellvertretung.
Einleitung
Bei der Stellvertretermediation ist also nur eine der beiden Streitparteien anwesend. Das ist der wesentliche Unterschied zur klassischen Mediation.
In der Stellvertretermediation übernimmt ein Mediator die Moderation der Mediation. Der zweite Mediator begibt sich stellvertretend in die Rolle der abwesenden Streitpartei. Dieser Mediator ist dann für die Dauer der Mediation der „Stellvertreter“ dieser Person. Es handelt sich hierbei nicht um ein klassisches Rollenspiel, bei dem der Stellvertreter dem Worte nach „eine Rolle“ spielt. Vielmehr verfügt der „Stellvertreter“ über die Fähigkeit, sich mit sehr viel Empathie in die anwesende Konfliktpartei „einzufühlen“. Der Mediator „in Stellvertretung“ präsentiert in der Mediation die real existierende, mitfühlende Seite der abwesenden Konfliktpartei, die lange nicht mehr gesehen wurde oder die derjenige nicht zeigen konnte. Dieses Vorgehensweise ist entscheidend für den Erfolg der Mediation.
Die Qualifikation des Mediators
Um die Aufgabe des Stellvertreters in einer Stellvertretermediation zu übernehmen, ist eine gesonderte Ausbildung erforderlich. Zudem bedarf es einer ausgeprägten Empathiefähigkeit.
Ablauf der Stellvertretermediation
1. Den Rahmen sichern (Auftragsklärung)
Neben den formalen Punkten, die zu Beginn einer jeden Mediation besprochen und vereinbart werden, klären die Mediatoren in Abstimmung mit ihrem Klienten zunächst die Rollenverteilung. Es wird vereinbart, wer die Mediation moderiert und leitet und wer die Rolle des Stellvertreters übernimmt.
2. Konflikterhellung
Hier beginnt die eigentliche Phase der Stellvertretermediation. Einer der Mediatoren begibt sich nun in die Rolle des Stellvertreters und lässt sich mit deren Namen ansprechen. „Ich bin jetzt bereit dir als „Herr Müller“ zuzuhören“. Im Anschluss wird der Mediand eingeladen, den Konflikt aus seiner Sicht zu schildern. Die Konflikterhellung durchläuft dann folgende Phasen:
Phase 1
In der ersten Phase erhält zunächst der Klient die Möglichkeit, das Anliegen und die daran gebundenen Emotionen zu schildern. Sehr einfühlsam kommen der Klient und der Stellvertreter in Kontakt.
Phase 2
In der zweiten Phase gibt der Stellvertreter sich selbst Einfühlung und gibt seinen Gefühlen und seiner Betroffenheit Raum.
Phase 3
In der dritten Phase fühlt sich der Stellvertreter in die damalige Situation ein und spricht über seine Beobachtungen, Gefühle, Bedürfnisse und Wünsche.
Phase 4
In der vierten Phase vergewissert sich der Stellvertreter wie es dem Klienten gerade geht und ob das Gespräch nun beendet werden kann. Wenn eine ausreichende Klärung erzielt wurde, verlässt der Stellvertreter seine Rolle.
Anmerkung: Insbesondere, wenn es sich um tiefliegende und komplexe Konflikte handelt, werden sich während der Mediation immer neue Aspekte zeigen. Insofern können die Phasen ineinander fließen oder es kommt zu einer hin- und her Bewegung zwischen den Phasen.
3. Lösungen finden
In der Phase der Lösungsfindung unterstützen beide Mediatoren den Anwesenden, tragfähige Lösungen für sich zu erarbeiten. Die üblichen Kreativitätstechniken kommen hierbei zur Anwendung.
4. Abschlussvereinbarung
Die Ergebnisse werden in einer Abschlussvereinbarung festgehalten.
5. Bilanzgespräch
Ein Bilanzgespräch ist auch bei der Stellvertretermediation nach 6 bis 8 Wochen empfehlenswert. So wird gewährleistet, dass der Klient nachhaltige Unterstützung erhält und auftretende Fragen zu einem späteren Zeitpunkt noch klären kann.
Fazit
Aus meiner Erfahrung gibt es viele Menschen, die aufgrund ihrer mangelnden Konfliktfähigkeit die Beteiligung an einer Konfliktlösung verweigern. Die Stellvertretermediation bietet daher für den Menschen, der den Konflikt dennoch für sich klären möchte eine gute Möglichkeit, den Konflikt zu bearbeiten und abzuschließen.
Herzlichst, Ihre Andrea von Graszouw
QUELLEN
Sander/Hatlapa, Mediation mit Stellvertretung, S. 86 ff.
Unterrichtsskript: Die Schule für Verständigung und Mediation
FOTONACHWEIS
Radu Florin